Berlin. Mehr als jeder zweite Euro der medikamentösen Therapie von Versicherten der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) mit einer HIV-Erkrankung wird in Deutschland von der amerikanischen Pharmafirma Gilead umgesetzt. Das Robert Koch-Institut schätzt, dass über 65.000 HIV-Infizierte eine antiretrovirale Therapie in Deutschland bekommen. Insgesamt hat die GKV 2016 rund 945 Millionen Euro für die Behandlung mit antiretroviralen Medikamenten ausgegeben, wie das Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO) mitteilt. Die Preise für HIV-Arzneimittel haben sich in den letzten 30 Jahren versiebenfacht. „Spitzenreiter ist die amerikanische Firma Gilead, die in Deutschland zum größten Anbieter für Medikamente gegen HIV-Erkrankungen geworden ist. Mit pharmatypischen Schachzügen hält sie den aufkommenden Preiswettbewerb von Generika-Konkurrenten klein und ihren Gewinn hoch“, so Helmut Schröder, stellvertretender Geschäftsführer des WIdO. Dazu kommt: „Neue, patentgeschützte Produkte von Gilead konnten ihre Überlegenheit gegenüber den bewährten Mitteln bisher nicht belegen, vielmehr können ihre Nebenwirkungen den Patienten sogar zusätzlich schaden.“
1987 wurde mit Retrovir® (Wirkstoff: Zidovudin) das erste Arzneimittel gegen HIV in Deutschland eingeführt. Seitdem hat sich die antiretrovirale Therapie (ART) sehr stark weiterentwickelt. Wurden früher mit der damaligen Monotherapie nur kurze und unzureichende Behandlungserfolge erzielt, können HIV-Patienten bei erfolgreichem Ansprechen auf die heute zur Verfügung stehenden Kombinationstherapien und dauerhafter Medikamenteneinnahme nahezu das Lebensalter der Durchschnittsbevölkerung erreichen. Forschung und Entwicklung haben jedoch anscheinend dauerhaft ihren Preis: 1990 kostete die Verordnung eines HIV-Arzneimittels die GKV durchschnittlich 220 Euro, 2016 mit 1.570 Euro bereits das Siebenfache.
Die Deutsche AIDS-Gesellschaft (DAIG e.V.) empfiehlt eine lebenslange Kombinationstherapie aus drei und mehr verschiedenen Wirkstoffen, die nicht nur die Lebenserwartung von HIV-Infizierten erheblich erhöht, sondern auch die Ansteckung Dritter vermindert. Umsatz-Spitzenreiter bei den HIV-Arzneimitteln war im Jahr 2016 Truvada®, eine Kombination aus Emtricitabin und Tenofovirdisoproxil von der Firma Gilead. Kurz vor dem Patentauslauf von Truvada® hat Gilead den Wirkstoff Tenofovir geringfügig modifiziert (Tenofoviralafenamid) und mit neuem Patentschutz unter dem Namen Descovy® ähnlich hochpreisig in den Handel gebracht. Gilead wirbt damit, dass Descovy® weniger Nebenwirkungen auf Nieren und Knochen hat. Doch der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA), der seit dem Jahr 2011 alle neuen Arzneimittel bewertet, konnte keinen Zusatznutzen für die Patienten feststellen. Die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) hat darüber hinaus eine Stellungnahme zu Tenofoviralafenamid zur Hepatitis B-Behandlung veröffentlicht, nach der die von Gilead durchgeführten Studien einen geringeren Schaden des neuen Produktes nicht belegen. Stattdessen weisen einige Ergebnisse darauf hin, dass es sogar mehr neurologische Nebenwirkungen als das schon lange in Truvada® eingesetzte Tenofovirdisoproxil verursacht.
Dennoch sind die Verordnungsmengen von Descovy® sehr schnell angestiegen und haben den Verordnungsrückgang des mittlerweile patentfreien Truvada® kompensiert. Obwohl entsprechend den Leitlinien der Deutschen AIDS-Gesellschaft (DAIG) ein Therapiewechsel ausschließlich bei Versagen, Nebenwirkungen, Problemen mit dem Einnahmeregime, Schwangerschaft, Begleittherapien oder Arzneimittelinteraktionen durchgeführt werden sollte. Somit konnte Gilead die rückläufigen Truvada®-Umsätze über die gestiegenen Descovy®-Umsätze nahezu vollständig ausgleichen. Heute geht mehr als jeder zweite Euro, den die GKV für antiretrovirale Therapien ausgibt, an Gilead. Noch vor 10 Jahren war es nur etwa jeder fünfte Euro.
Bevor im August 2017 die ersten Generika zu Truvada® auf den Markt gekommen sind, hatte Gilead seine neue Kombination Descovy® erfolgreich platziert. „Offenbar hat Gilead die vermeintlichen Vorteile seines nur leicht veränderten, aber unter Patentschutz stehenden Präparates erfolgreich beworben und konnte sich somit der unliebsamen Generika-Konkurrenz erwehren. Mit dieser Strategie werden HIV-Patienten für Unternehmensinteressen benutzt, indem ihre Therapie unnötig auf neuere und teure Arzneimittel umgestellt wird, deren Verbesserung gar nicht belegt und mit womöglich neuen Gefahren verbunden ist. Gilead verhindert damit auch einen möglichen Preiswettbewerb und Einsparungen für die GKV“, sagt Helmut Schröder.
Gilead belegt 2016 im Ranking der Pharma&Biotech-Branche den siebten Platz mit einem weltweiten Jahresumsatz von 30 Milliarden US-Dollar. Mit einer EBIT-Marge (dem prozentualen Anteil des Ergebnisses vor Zinsen und Steuern am Umsatz) von mehr als 60 Prozent in den Jahren 2014 und 2015 nimmt das Unternehmen sogar einen Spitzenplatz in der ohnehin schon profitablen Pharmabranche (durchschnittliche EBIT-Marge 26 Prozent) ein.Mit ihrer Kampagne UNAIDS wollen die Vereinten Nationen bis zum Jahr 2030 die AIDS-Epidemie weltweit eindämmen. Mit der 90-90-90 Strategie sollen 90 Prozent der HIV-Infizierten diagnostiziert sein, 90 Prozent sollen eine adäquate ART-Therapie erhalten und bei 90 Prozent davon soll die Virenvermehrung komplett unterbunden sein, um eine weitere Ausbreitung zu verhindern. Deutschland steht kurz vor Erreichen dieses Ziels. Den Status zu halten, gelingt allerdings nur, wenn alle Diagnostizierten auch lebenslang mit einer erfolgreichen und bezahlbaren Therapie behandelt werden können.
Die Verordnungsdaten für die Jahre 2015 und 2016 über jährlich knapp 700 Millionen Arzneimittelverordnungen stehen allen Interessierten zur kostenfreien Nutzung im PharMaAnalyst des WIdO zur Verfügung.